Erziehungsmethoden

Hans Berger fasst seine Erfahrungen in Kleinvolderberg so zusammen: „Die komplette Erziehung bestand nur aus Gewalt, von Aufklärung oder Belehrung nicht die geringste Spur. Heute bin ich der Meinung, mir hat man nicht Teufel ausgetrieben, sondern zehn Teufel hineingeschlagen. Heute kann ich versichern, eine Anhaltung in so einem Fürsorgeheim hat mit Erziehung nichts am Hut.“ Auf Unterordnung hätten in Kleinvolderberg alle bestanden, gehorchen sei oberstes Gebot gewesen, betont Gerhard Obholzer, „denen hättest du die Füße küssen müssen, wenn es nach ihnen gegangen wäre.“ Julia Wegner unterstreicht mit Blick auf Scharnitz: „Du durftest überhaupt nichts hinterfragen, sondern musstest dich total unterwerfen.“

Ordnung ist für alle interviewten ehemaligen Heimkinder ein weiteres Zauberwort. Dies drückt sich auch in immer wiederkehrenden Wörtern aus wie penibel, blitzblank, zentimetergenau, militärisch usw. Besonders die geschlechtsspezifische Ausprägung der Ziele wird hervorgehoben. Heiraten, Kinder gebären, eine christliche Ehe führen als brave, gefügige Hausfrau, die sich dem Manne unterordnet, kuscht und nicht widerspricht. Diese Erziehungsziele hätten im Kinderheim Martinsbühel oberste Priorität gehabt, unterstreicht Aloisia Wachter. Brav sein, nicht widersprechen, folgsam und sittsam sein, waren nach übereinstimmender Meinung der Befragten die Leitlinien in allen Mädchenheimen. So seien sie zu „kleinen Mäuschen“ geworden, erklärt Roswitha Lechner. In St. Martin in Schwaz habe es geheißen: „(…) ein gutes Mädchen kann die Hauswirtschaft. Auf eine perfekte Haushaltsführung sind wir vorbereitet worden. Wir haben gelernt, zu putzen, zu kochen, den Tisch zu decken, zu bügeln und zu nähen. Die Frau gehört hinter den Herd, soll ordentlich gekleidet und frisiert sein und sich dem Mann unterordnen.“ Aloisia Wachter resümiert die Erfahrungen mit den Klosterschwestern so: „Bei uns war halt immer arbeiten. Für sie war beten und arbeiten, dass wir das lernen, das Wichtigste.“

Aus einer sozialwissenschaftlichen Distanz ist über die Erziehungsmethoden Folgendes zu sagen: In den Heimen für die Buben ist der religiöse Drill weniger stark ausgeprägt, selbst in der Bubenburg, was aber nicht bedeutet, dass Religion nicht dennoch eine wichtige Rolle eingenommen hätte. Die Verinnerlichung religiöser und bürgerlicher Werte wurde über die Praktizierung der christlichen Rituale überall in mehr oder weniger großem Ausmaß angestrebt, bei den Mädchen war nicht nur der Umfang wesentlich höher, sie wurden noch weitaus mehr als die Buben über die Konfrontation mit der eigenen Sündhaftigkeit erzogen. Da sie und ihre kleinen Geschwister in Scharnitz eingebläut bekamen, mit der Sünde geboren worden zu sein und ständig Buße tun mussten, wandte sich Julia Wegner vom Christentum ab. Dabei kam sie als Mädchen tiefgläubig in das von Nonnen geführte Heim: „Von Jesus und der Nächstenliebe und von den schönen Dingen des Glaubens, von denen ich vorher gehört habe, war absolut nichts zu finden.

Die Haupterziehungsmethode schlechthin bestand aus einer schier endlosen Palette an Bestrafungen. In den Heimen sprengte die „Schwarze Pädagogik“ alle Grenzen. Das Wesen der Heimerziehung offenbart sich in seinem Bestrafungssystem und bietet das Bild eines massiv auf Unterdrückung, Drill, Disziplinierung und Gewalt ausgelegten Umgangs. Was bereits außerhalb der Heime die negative Einstellung zum Kind über Jahrzehnte nach 1945 charakterisierte, potenzierte sich unter den Rahmenbedingungen der Anstalten ins Unermessliche. Die geringste Verfehlung wurde geahndet, Kleinigkeiten zogen bereits drakonische Strafen nach sich.

Die psychischen Übergriffe und Demütigungen müssen den Schlägen und Körperstrafen gleichwertig gegenübergestellt werden, monieren fast alle Befragten. Besonders schrecklich empfunden wurde es, wenn FreundInnen oder gar Geschwister den Brutalitäten der Erziehungsmacht ausgesetzt waren und man diesen Übergriffen zusehen musste, ohne eingreifen zu können. Das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden mit daraus erwachsenden Schuldgefühlen ist bei den Befragten, die dies erlebten, so schmerzlich gegenwärtig, dass diese Erinnerungen auch heute noch kaum auzuhalten sind. Schläge seien im Vergleich dazu erträglicher gewesen. Viele Kinder und Jugendliche mussten schon daheim so viel Prügel einstecken, dass sie nicht so leicht zu beeindrucken waren. Eine Reihe ehemaliger Heimkinder berichtet, dass sie geradezu schmerzunempfindlich wurden. Das allgegenwärtige Gefühl ausgeliefert zu sein, führte bei einigen der Befragten sogar noch während ihres Heimaufenthaltes zu Selbstmordgedanken. Für Roswitha Lechner bleibt es unvergesslich, dass sie der Zwillingsschwester nach ihrem Selbstmordversuch nicht einmal einen Krankenbesuch abstatten durfte.

Sportliche Rituale zählen in der Bubenburg zu beliebten Demütigungen. Die Jungen mit Schischuhen durch Fügen zu hetzen, besonders im Sommer, mit kurzen Hosen und unter dem Zwang, Händchen zu halten, war für sie, gerade vor den Mädchen im Dorf, mehr als peinlich. Einer ausgesprochen homophoben Ader befleißigte sich der Leiter der Bubenburg, Pater Magnus Kerner, der Buben schon einmal während seiner Tobsuchtsanfälle als „warme Brüder“ beschimpfen konnte. Doch auch weltliche Erzieher der Bubenburg – unterstrichen werden muss, dass wir bei den erwähnten Vorfällen von den 1970er Jahren sprechen – wussten einen unbeschreiblichen Psychoterror auszuüben. Einen Buben mit Kuhscheiße einzureiben und einem anderen einen Hundemaulkorb zu verpassen, mit dem das noch nicht schulpflichtige Kind den ganzen Tag herumlaufen musste, nachdem es sich gegen die Erzieher gewehrt und um sich gebissen hatte, gehören zu den abstoßendsten Beispielen erzieherischen Heimwirkens, die sechs ehemalige Heimkinder der Bubenburg berichten. Von ähnlichen Perversionen weiß auch Aloisia Wachter zu berichten. Sie wurde in Martinsbühel in eine Zwangsjacke gesteckt und des Öfteren wie ein Hund an einem Tischbein festgebunden. Den Mädchen wurden in Kramsach neue Spitznamen wie „Klostampfer“ oder „Misthaufen“ gegeben, den auch die anderen Kinder benutzen mussten, statt sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Immer wieder stocherten die Erzieherinnen in die offenen Wunden der Mädchen: „Und warum haben eure Eltern euch hergeschickt, weil sie euch nicht mögen haben.“ Aloisia Wachter machte dieselben Erfahrungen in Martinsbühel: „Du taugst nichts, du bist nichts wert, deine Mutter ist auch nichts wert. Du bist ein schlimmes Kind, deswegen bist du hier gelandet. (…) und dann aus euch wird eh nichts, ihr landet im horizontalen Gewerbe.“

Einen hohen Stellenwert im Bestrafungssystem von Erziehungsheimen für die nicht mehr schulpflichtige Jugend nahm der Karzer ein. In Schwaz wurden die Hunde der Direktorin eingesetzt, um flüchtige Mädchen wieder zu fassen. Alle Befragten, die in Schwaz oder in Kleinvolderberg gewesen waren, machten Bekanntschaft mit dem Karzer und berichten über verschiedene Isolierungsmaßnahmen, demütigende Kleidung – die Burschen waren vielfach sogar nur mit Unterhosen bekleidet –, einem Kübel oder einer offenen Klomuschel für die Notdurft, Gucklöchern, vergitterten Fenstern und Schlägen.

Einigen der Befragten, die aus dem Heim davonliefen, wurde eine Glatze geschoren. Diese Erniedrigung erfuhren in Westendorf sogar schulpflichtige Kinder. Was für die Fürsorgeerziehungsheime der Karzer darstellte, war in den Kinderheimen, auch im Erziehungsheim Kramsach-Mariatal, das Einsperren in einen lichtlosen Keller, das Hinausstellen in die endlosen und furchterregenden Gänge in der Nacht oder die Verbannung auf den dunklen Dachboden, jeweils über viele Stunden hinweg. Dieses Einsperren in dunkle Räume konnte auch als Strafe für eines der schlimmsten Vergehen in den Heimen zum Einsatz kommen: für das Bettnässen. So erging es etwa den beiden zwei- bis vierjährigen Geschwistern von Julia Wegner in Scharnitz. Andere Strafen für einnässende Kinder waren der Teppichklopfer, in der Bubenburg auch „Lukas“ genannt, oder vor allem die Kombination von körperlichen Übergriffen und Verhöhnungen. Mercedes Kaiser erwähnt die nackte Bloßstellung der betroffenen Mädchen und die Anwendung einer ganz besonders beliebten Schocktherapie: die Verabreichung von kalten Duschen. Karlheinz L. berichtet von einem Extrazimmer für Bettnässer in Westendorf, wo er seine beiden kleinen Brüder schreien hörte, weil sie mit nassen Leintüchern geschlagen und mit dem Gesicht voran in die nasse Bettwäche eingetunkt wurden.

Auch in der kinderfeindlichen und schlagfreundlichen Gesellschaft der 1950er bis 1970er Jahre bildet die exzessive körperliche Gewalt, die in allen Kinder- und Fürsorgeerziehungsanstalten die Regel war, eine Besonderheit. Einzig für das Kinderheim Pechegarten liegen widersprüchliche Berichte vor, hier konnten wesentlich öfter positive Erfahrungen gemacht werden.

„Ich kann mich nur erinnern, in diesen ganzen vier Jahren, ich bin in der Früh aufgestanden mit Angst und ich bin in der Nacht schlafen gegangen mit Angst“, sagt Franz Pichler über das Heim in Westendorf. Dieser Satz war von mehreren ehemaligen Heimkindern, die in verschiedenen Anstalten untergebracht waren, fast wortident zu hören.

In den Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen kam es zu sexuellem Missbrauch in mehreren Schweregraden. Als sich 1967 ehemalige Heimkinder aus Westendorf ihrem Sachwalter anvertrauten, kam es zu einer Verurteilung des Täters. Doch Sebastian, eines der Opfer, musste sich vor dem Jugendgericht verantworten, um zu beweisen, dass er nicht eingewilligt und sich damit keiner homosexuellen Handlung schuldig gemacht hatte. In der Bubenburg war es in erster Linie ein Erzieher, der sich über die Buben hermachte. Nachdem er jahrelang sein Unwesen trieb, gelang es den Buben, ihn durch einen klugen Schachzug außer Gefecht zu setzen. Sie beichteten bei einem Pater, mit dem sie gut auskamen, im Wissen, dass dieser das Beichtgeheimnis brechen würde. Die Buben vertrauten sich schließlich auch dem Schuldirektor an. Einige Zeit später musste der Erzieher die Bubenburg verlassen. Er bestritt die Anschuldigungen und schilderte vor kurzem seinen damaligen Abgang folgendermaßen: „Wegen der Vorfälle, die erst Mai 1979 aufgekommen sind, hat es sowohl mit dem Lehrkörper als auch mit der Heimleitung eine Anhörung gegeben und habe ich zu den Vorwürfen Stellung genommen. Aufgrund meiner Aussagen hat die Heimleitung beschlossen keine Anzeige zu erstatten. Das Schuljahr habe ich ganz normal abgeschlossen und nach Schulschluss die Bubenburg mit einem ausgezeichneten Zeugnis der Heimleitung verlassen.“ Die Kinder bekamen keine therapeutische Hilfe. Die Patres gingen den Weg der Vertuschung, um den Ruf des Heimes nicht zu gefährden – und die Spendeneinhebung.