Wie alles begann

Am 10. März 2010 informierte Horst Schreiber den Tiroler Landesrat Gerhard Reheis, dass nicht nur in katholischen Einrichtungen, sondern auch in den Kinder- und Erziehungsheimen des Landes Tirol und der Stadt Innsbruck Menschenrechte systematisch verletzt wurden.

Der Landesrat reagierte umgehend und fasste nach einer Unterredung den Entschluss zur Einrichtung einer Steuerungsgruppe sowie einer Opferstelle des Landes, an die sich ehemalige Heimkinder wenden konnten. Georg Laich vom ORF-Landesstudio Tirol berichtete ausführlich, Brigitte Warenski von der „Tiroler Tageszeitung“ und Gernot Zimmermann vom Tiroler Monatsmagazin „Echo“ ließen nicht locker. Ohne Warenski und Zimmermann, die bis heute immer wieder ausführlich und mit einer verantwortungsbewussten Haltung gegenüber den ehemaligen Heimkindern schreiben, wäre vieles an Aufarbeitung und positiver Entwicklung nicht möglich gewesen.

Binnen kürzester Zeit meldeten sich dutzende ehemalige Heimkinder bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft (Kija) Tirol, wo die Opferstelle des Landes Tirol eingerichtet worden war. Bei Elisabeth Harasser, Leiterin der Kija, und ihrer Mitarbeiterin Daniela Laichner liefen die Telefone heiß. Insgesamt 79 Betroffene, 40- bis 70-jährige Frauen und Männer, berichteten – oft das erste Mal – über ihre erschütternden Erfahrungen in Tiroler Heimen, die sie vor allem ab den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre machen mussten. Ihnen sollten noch Hunderte folgen. Unbürokratisch wurden Mittel zur Verfügung gestellt, um Gesprächsrunden und Erinnerungsgruppen unter psychologischer Betreuung zu ermöglichen. Vereinzelt konnten in besonders dringenden Fällen auch sofort therapeutische Hilfen zur Verfügung gestellt werden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es auch, dass Betroffene, nachdem ihnen dies in den meisten Fällen jahrzehntelang verweigert worden war, in ihre Fürsorge- und Pflegschaftsakte Einsicht nehmen konnten – sofern diese noch aufgefunden wurden. Diejenigen, die ihren Akt anforderten, erhielten eine psychologische Betreuung, wenn sie dies wünschten.

Nach einigen Monaten intensiver Arbeit der ehrenamtlich agierenden achtköpfigen Steuerungsgruppe „Opferschutz“ wurden ihre Empfehlungen Ende Juli 2010 der Öffentlichkeit und der Tiroler Landesregierung übergeben. Darin hieß es unter anderem:

Den Berichten der ehemaligen Heimkinder und InsassInnen der Landeseinrichtungen, die der Anlaufstelle für Opferschutz ihre schrecklichen Erlebnisse anvertraut haben, wird Glauben geschenkt. Es wird anerkannt, dass den Betroffenen durch systematische psychische, physische oder sexuelle Misshandlungen Unrecht zugefügt wurde. Das Land Tirol anerkennt dieses Unrecht, das Kindern und Jugendlichen, die ihrer Obsorge unterstanden, über Jahrzehnte widerfuhr.“

Betont wurde die politische gegenüber einer nur rechtlichen Verantwortlichkeit. Diese sollte sich in einer angemessenen Entschuldigung der gegenwärtigen RepräsentantInnen des Landes Tirol und einer umfassenden historischen Aufarbeitung der Geschichte des Tiroler Heim- und Fürsorgewesens ausdrücken. Neben Publikationen wurde die Errichtung eines öffentlichen Erinnerungszeichens, die Aufnahme der Heimgeschichte in den Unterrichtskanon und die Konzeption einer Wanderausstellung empfohlen. Weitere Schwerpunkte bildeten Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Vorkommnisse in der Zukunft und die Bereitstellung therapeutischer Unterstützungen bei der Aufarbeitung des erlittenen Unrechts. Trotz der Verjährung der Taten wurde eine finanzielle „Wiedergutmachung“, die angesichts der Geschehen nur als Gestezahlung bezeichnet werden kann, empfohlen.

Am 15. August 2010 stellte Landeshauptmann Günther Platter anlässlich der Sondersitzung der Landesregierung zum „Hohen Frauentag“ fest: „Ich bitte im Namen des Landes Tirol die Opfer um Verzeihung für erlittenes Unrecht, für Gewalt und seelische Schmerzen, die von Menschen im Dienst des Landes verursacht wurden. Geschädigte brauchen Hilfe und Unterstützung. Dafür wird das Land Tirol auch finanziell geradestehen und damit seiner Verantwortung nachkommen.“ Eine „Entschuldigung“ sei nicht passend, weil sich das Land nicht frei machen wolle von Schuld. Dass Kinder und Jugendliche seelische und physische Gewalt erleiden hatten müssen, sei „traurig und beschämend“. Geschehenes könne nicht ungeschehen gemacht werden, doch zumindest sei das „dunkle Kapitel“ lückenlos aufzuarbeiten: Und es werde Entschädigungszahlungen geben. Die Botschaft für die Zukunft sei: „Nie mehr wieder“.

Die Resonanz in der Öffentlichkeit war beachtlich. In einem Kommentar der „Presse“ vom 16. August 2010 hieß es unter der Schlagzeile „Vertirolern wir doch Österreich“:

„Das Land Tirol sagt Missbrauchsopfern in außerkirchlichen Einrichtungen Entschädigungszahlungen zu. Ja und, mögen manche denken, ist doch alles eigentlich eine Selbstverständlichkeit angesichts eines ohnedies kaum mehr wiedergutzumachenden Leides. Tja, tatsächlich bemerkenswert ist eher, dass sich Tirol so ganz und gar von den anderen Bundesländern abhebt. Dort reagiert man auf Missbrauch in eigenen Schulen und Internaten mit Wegschauen und Verdrängen. Entschädigungszahlungen? Vergebungsbitten? Fehlanzeige. Dem Rest Österreichs würde es nicht schlecht anstehen, sich ein Beispiel zu nehmen. Und rasch einen Prozess der Vertirolerung einzuleiten. Mander ...“.

Das Land Tirol hatte im gesamtösterreichischen Vergleich die Vorreiterrolle übernommen. Eine Woche später meldete sich der Wiener Bürgermeister Michael Häupl zu Wort, indem er sich öffentlich entschuldigte und eine Vorgangsweise ankündigte, die jener in Tirol ähnlich war. In den nächsten Monaten entstanden in den meisten Bundesländern Opferschutzstellen und Kommissionen. Der Bund war nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen, sodass die Anzahl der Kommissionen überhand nahm. Erst 2012 nahm sich die Republik der Internate und der berüchtigten Bundeserziehungsanstalten Kaiser-Ebersdorf mit der Außenstelle Kirchberg oder Wiener Neudorf an, die eher als Jugendgefängnisse zu bezeichnen sind. Im Frühjahr 2011 rief auch die Stadt Innsbruck eine Opferschutzkommission ins Leben.

Innerhalb von zwei Jahren wurden immer neue Details des Heimsystems in der Öffentlichkeit heftig diskutiert: Ausbeutung der Arbeitskraft der Heimkinder, Umgehung der Sozialversicherung durch Firmen, Bauern, Bundesheer, Krankenhäusern etc., Verbrechen in Medizin und Psychiatrie, sexuelle Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen. Zahlreiche neue Untersuchungskommissionen entstanden. Doch sie entstanden nicht von selbst.

In meinem Buch "Im Namen der Ordnung" berichtete ich auf 40 Seiten auch über die Jahrzehnte andauernden unhaltbaren Zustände an der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation unter der Führung von Dr. Maria Nowak-Vogl. Über ein Jahr lang geschah – nichts. Als Anfang 2010 Malariaversuche an Wiener Heimkindern die mediale Berichterstattung beherrschten, informierte ich ORF und Presse über die als terroristische Gewalt gegen Kinder zu bezeichnenden Vorkommnisse auf der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation. Nun berichteten Medien im In- und Ausland, das Thema war nicht mehr zu übergehen. Das Land Tirol richtete eine Kommission ein, an die sich die Opfer wenden konnten, sie erhielten nun problemlos Einsicht in ihre Akten. Die Medizin-Universität stellte eine Historisch-Medizinische Kommission zusammen, die eine Bewertung vornahm und weitere Forschungen anregte.

Viele Seiten in meinem Buch „Im Namen der Ordnung“ sprechen die Zwangsarbeit in den Heimen an. Als Georg Hönigsberger vom KURIER auf eine Passage stieß, in der eine weibliche Jugendliche ihre Arbeit bei Swarovski erwähnte, nachrecherchierte und eine Titelgeschichte über die um die Früchte ihrer Arbeit Betrogenen im Fürsorgeerziehungsheim St. Martin in Schwaz veröffentlichte, war die Überraschung groß. Die Unternehmen, die Politik, die Orden: Niemand wollte je etwas davon gehört haben. Firmen beschuldigten das Land, dafür verantwortlich zu sein, dass Heimleitungen nicht den von ihnen gezahlten Lohn zur Gänze weitergegeben hatten. Dabei vergaßen sie zu erwähnen, dass sie selbst die Ärmsten der Armen betrogen hatten, ganz legal, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge leisteten. Um diese Scheinheiligkeit zu entlarven und die negativen Auswirkungen fehlender Versicherungsjahre für die Pension von Heimkindern in den Blickpunkt zu rücken, brachte ich diese Problematik in die öffentliche Diskussion ein. Dutzende Printmedien, Fernseh- und Radiostationen im In- und Ausland berichteten. In Tirol richtete das Land daraufhin eine eigene Kommission "Arbeit im Heim" ein und erteilte an die Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck einen Auftrag zur Erforschung der Thematik. 

Viele ehemalige Heimkinder haben seit 2010 erfahren können, dass ihnen endlich Glauben geschenkt und das an ihnen begangene Unrecht offiziell anerkannt wird. Gleichzeitig ist es auch ein schmerzlicher Prozess, sich mit furchtbaren Erinnerungen auseinandersetzen zu müssen. Die Folgen sind vielfach Trauma-Aktivierung und Retraumatisierung, eine therapeutische Begleitung ist hier unerlässlich, ebenso die unbürokratische und kostenlose Zurverfügungstgellung von Therapien durch die öffentliche Hand und die Kirchen.

2010 legte Horst Schreiber in Eigeninitiative die erste breit angelegte Publikation zur Heimerziehung in Österreich nach 1945 am Beispiel Tirols vor: Im Namen der Ordnung. Sie rief auf, den Impuls für die weitere empirische und theoretische Aufarbeitung der Heimerziehung in verschiedenen Teilen Österreichs aufzugreifen.