Aus: Mails und Gespräche mit Betroffenen 2011/12

 

1950er Jahre: Meine Mutter war also überhaupt nicht dazu fähig, uns vor irgendetwas oder irgendwem zu beschützen – sie hätte schon damals selbst dringend Hilfe gebraucht. (...) Außerdem wurden sowieso  a l l e  Heimzöglinge – gleich welchen Alters – als permanente Lügner deklassiert. In den ersten Monaten unseres Heimaufenthaltes haben mein Bruder und ich nach erhaltenen Prügeln für nichts den "Tanten" ein paar Mal damit "gedroht", ......."das sag ich meinen Eltern".... Die "Tanten" haben nur gelacht und gesagt, die glauben euch sowieso nicht, die mögen euch ja gar nicht und deshalb müßt ihr da bleiben  – und außerdem, wenn du nicht sagst, du hast dir beim Spielen weh getan, wirst du bestraft (Strafen: Kein Mittag- u n d kein Abendessen, dafür Schläge und "Scheitlknien" bis zur Bewusstlosigkeit...). (...)

Wir haben den "Tanten" natürlich geglaubt, dass unsere Eltern uns nicht lieb hatten: Schließlich hatte uns unsere Mama  zu diesen fremden Leuten gebracht und war dann fort gegangen und wenn unsere Eltern zu Besuch kamen (1x pro Woche am Wochenende, öfter war nicht erlaubt, meine Mutter hat mir auch das bestätigt), sind sie wieder fortgegangen und haben uns dort zurückgelassen, ebenso später, als sie dann ein eigenes Zimmer hatten bei Freunden und wir übers Wochenende das Heim verlassen durften. D a s war überhaupt schlimm für uns, denn in dieser Wohnung waren auch zwei Kinder und die haben zu meiner Mama "Tante" gesagt und durften immer dort sein. (Meine Mama hat die Kinder ihrer Freundin betreut, wenn diese zur Arbeit war, im Gegenzug durften meine Eltern dort kostenfrei wohnen).

Natürlich waren wir traurig und frustriert und haben ablehnend gegenüber unseren Eltern reagiert, auch, als wir dann endlich aus dem Heim heraußen waren. Was zur Folge hatte, dass die Depressionen meiner Mutter noch schlimmer wurden und mein Vater uns auch auf Grund dessen immer wieder verprügelt hat – schwer verletzte Kinderseelen wurden mit "Bockigsein" gleichgestellt.

Zu meinem Bruder: Wir wurden gleich nach unserer Ankunft im Heim getrennt, waren auch beim gemeinsamen Essen zwar im gleich Raum, aber weit voneinander entfernt (Geschlechtertrennung!) und hatten wenig Gelegenheit, gemeinsam zu spielen (wobei die sogenannten "Spielzeiten'" und Spiele streng reglementiert und vorgegeben waren). Wir mussten miterleben, wie wir wechselweise schwerst misshandelt wurden, von den "Tanten" und den älteren Kindern, und konnten uns selbst nicht und auch nicht gegenseitig helfen. Das Band unserer vorher sehr engen Bindung (...) wurde somit gleich vehement durchtrennt. Dazu kam noch, dass mein Bruder, sofern es ihm möglich war (z.B. bei der Essensausgabe, bei der die Kleinsten, zu denen auch wir gehörten, von den größeren Kindern unter Aufsicht der jeweiligen "Tante" brutal zur Seite gestoßen wurden und somit oft leer ausgingen) versucht hat, mich zu verteidigen bzw. vor den Misshandlungen der älteren Kinder und auch Tanten zu beschützen. Natürlich war er damit mit seinen nicht mal 5 Jahren völlig überfordert. Er hatte genug mit sich selbst und seinem eigenen Überleben zu tun – damals wurde der Grundstein für seine späteren schweren psychischen Erkrankungen gelegt. Und mein Bruder und ich wurden einander entfremdet. (...)

Auch wenn mich meine Heimerfahrungen mein ganzes Leben lang begleiten und immer wieder einmal mehr oder weniger präsent sein werden, habe ich dennoch ein Stück Lebensqualität dazu gewonnen. Ich habe endlich realisiert, dass ich nicht Schuldige, sondern Opfer eines Systems war (...).

Mein größter Wunsch an alle Verantwortlichen der heutigen Zeit ist jedoch nach wie vor: Bitte, bitte lasst nicht zu, dass so etwas wieder geschehen kann. Lasst nie wieder zu, dass wehrlose Kinder, psychisch und körperlich beeinträchtigte und alte Menschen gequält und misshandelt werden! 

1960er Jahre: Ich kam im Alter von 2 Jahren (...) ins Kinderheim Mariahilf [und blieb dort einige Jahre]. Ich kann mich daran nur mit Grauen erinnern, es war schrecklich, so ausgeliefert und dabei völlig hilflos zu sein. Geschlagen wurde praktisch für alles und ständig. Auch ich musste Erbrochenes vom Teller essen, d.h. mir wurde der Löffel in den Mund gesteckt und zugehalten, bis ich schluckte. Einmal wurde ich davon krank, der Arzt hat dafür gesorgt, dass ich kein Sauerkraut mehr essen musste.

Noch eine gängige Strafe waren die sogenannten Manschetten. Das waren Teile aus Hartplastik, in die man reinschlupfen musste, die über die Ellbogen reichten und an der Unterseite gegenseitig miteinander verknüpft werden mussten. So konnte man die Arme nur gerade halten, nicht mehr anwinkeln und sie nicht auseinander nehmen. Bewegungslosigkeit für Kleinkinder. Je nach Strafmaß mal einen Tag oder auch länger.

Unterhosenkontrollen fanden bereits in der Kleinkindgruppe statt, da waren Kinder zwischen 2 bis 6 Jahren, eben vor der Schulzeit. Wurde hier etwas in der Unterhose, die eine ganze Woche lang sauber bleiben musste entdeckt, wurde die Unterhose verkehrt herum auf den Kopf gesetzt, das betroffene Kind musste sich auf ein niedriges Stühlchen in die Mitte setzen und man wurde von "Tanten" und Kindern, die um einen herumstanden, gedemütigt, beleidigt und ausgelacht.

1970er Jahre: Ich wurde psychisch wie physisch misshandelt. Da ich im Bett unruhig war, musste ich oft während der Nacht neben dem Bett stehen. Auch am Dachboden wurde ich in der Nacht eingesperrt. Strafen waren Kniebeugen mit Büchern auf den Armen, kaltes Duschen, wobei man ausgelacht wurde. Daher versuchte ich mich oft zu verstecken. Prügel gab es genug.

Ich hatte Neurodermitis, behandelt wurde ich aber nicht, aber wenn ich mich kratzte, bekam ich Schläge ins Gesicht oder die Hände wurden mir zusammengebunden, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Kam ich zu spät von der Schule, wurde mir das Essen gestrichen oder es gab eine Ohrfeige. Auf der anderen Seite herrschte Essenszwang. Wenn es einen würgte, musste man auch das essen. Dafür wurden mir die guten Sachen weggenommen und an andere Kinder verteilt, wenn die Mutter etwas brachte. Ich habe Nächte lang nicht geschlafen, aus Angst, weil die „Tanten“ mir drohten, dass ich in die Bubenburg nach Fügen komme, aber ich wollte bei meinen Geschwistern bleiben.

Ich war sechs, sieben Jahre alt und voller Scham, weil man uns, wenn wir schlimm waren, die Hose runtergezogen hat und im Kreis vor den anderen versohlt hat. Ohrfeigen bekamen wir sowieso.

Wir wurden immer wie Menschen zweiter Klasse behandelt und wir bekamen es täglich zu spüren. Wenn die Tageskinder im Heim waren, mussten wir vom Tisch aufstehen, um für die Tageskinder Platz zu machen. Ich frage mich heute noch, warum wir so schlecht behandelt wurden. Wir waren doch nur Kinder, die Hilfe brauchten, da wir aus dem familiären Netz herausgefallen waren. Mir fällt es heute noch sehr schwer, darüber zu sprechen