Anpassung und Widerstand

Wie reagierten nun die Heimkinder auf die Verhältnisse im Heim? Viele von ihnen passten sich an, wobei es sich zumeist um eine widerwillige Anpassung handelte. Ein Teil ging diesen Weg, um die Gunst von ErzieherInnen zu gewinnen und so zumindest in Ansätzen zu jenen Erlebnissen zu kommen, die sie in ihrem Leben entbehrt hatten: Liebe, Respekt, Anerkennung, als Kind und Jugendlicher angenommen zu werden. Die Herstellung von Anpassung war Teil des ausgeklügelten Systems von Strafe und Belohnung, wobei es für Strafen einen nicht enden wollenden Katalog von Sanktionen gab und für Belohnungen einige bescheidene Anreize, die fast immer in Verbindung mit Strafandrohungen standen.

Ein selbstständiges, verantwortliches Handeln konnte diese Erziehung sicherlich nicht fördern. Häufig führte sie zu einer Scheinanpassung, über die ErzieherInnen und Heimleitungen heftig klagten. Sie unterstellten dieses Verhalten, zu dem sie selbst in hohem Maß beitrugen, auch jenen, die sich ernsthaft bemüht hatten, was diese wieder veranlasste, zu ihrem widerständigem Benehmen zurückzukehren.

Wer nicht ständig in Isolierhaft sein oder den Ausgang am einzigen Halbtag in der Woche verlieren wollte, wer nicht ständig geschlagen werden wollte, wer keine Glatze geschoren bekommen wollte, wer nicht Teile seines wenigen hart verdienten Geldes verlieren wollte, wer unter Menschen kommen und außerhalb des Heimes arbeiten wollte und wer in die letzte Gruppe gelangen wollte, um frühzeitig entlassen zu werden, war bestrebt, nicht negativ aufzufallen und seine „Bewährung“ unter Beweis zu stellen. Nicht zufällig nahm ein ruhigeres und angepassteres Verhalten bei einem Teil der Heimkinder vor allem gegen Ende des Heimaufenthaltes zu. Dieses System verlangte die totale Unterwerfung.

Nicht die ErzieherInnen lobten die Kinder und Jugendlichen, sondern die BetreuerInnen mussten durch Lob bei guter Laune gehalten werden. Wenn eine der Befragten beklagt, dass sie in Schwaz zur Jasagerin erzogen wurde, so verweist dies auch darauf, dass sich viele nicht nur aus Kalkül anpassten, sondern weil ihre Persönlichkeit gebrochen wurde. Die Pädagogik der Härte konnte auch zu Anpassungsleistungen führen, die exakt dem entsprachen, was unter einer erfolgreichen Heimerziehung verstanden wurde. Offen bleiben die langfristigen Folgen des Gebrochen-Werdens.

Zweifellos hat eine Reihe von Heimkindern ihren Heimaufenthalt so verarbeitet, dass sie diesen heute als hilfreiche Zeit interpretieren. In der Öffentlichkeit haben sich bis jetzt nur in äußerst seltenen Ausnahmen Menschen gefunden, die ihren Heimaufenthalt als Gewinn bezeichneten. Unter den Befragten und allen Kontakten, die der Autor herstellen konnte, sowie unter den Meldungen bei der Ombudsstelle des Landes Tirol und der Stadt Innsbruck gab es niemanden, der sein Leben im Heim und seine Auswirkungen positiv empfunden hätte, auch wenn die Verhaltensweisen von ErzieherInnen durchaus differenziert dargelegt und Einzelne geschätzt wurden.

Jede Bereitschaft zur Anpassung stieß nicht zuletzt auf ein besonders hohes Hindernis: Das Heim und seine RepräsentantInnen erhoben – und dies in Permanenz – einen absoluten Anspruch und pochten auf absoluten Gehorsam. Dies zielte darauf ab, die Kinder und Jugendlichen völlig umzuerziehen. Damit verbunden war eine totale Entwertung des bisherigen Lebens des Heimkindes und seines „Charakters“, aber oftmals auch eine Verurteilung seiner Angehörigen. Die Kinder und Jugendlichen mussten sich anhören, dass sie und ihre Eltern verwahrlost, abnormal, minderwertig, psychopathisch, moralisch verkommen, hurenhaft, sündig seien. Dies bedeutete einen Angriff auf die Persönlichkeit des Kindes und seine bisherige Identität.

Viele Heimkinder versuchten auf unterschiedliche Weisen ihr Selbst zu schützen und damit ihre Würde. Einige der Befragten geben an, dass sie sich gegenüber den erzieherischen Instanzen nach außen hin völlig gleichgültig zu geben versuchten oder sich abkapselten, um sie auf diese Weise auf Distanz zu halten. Die Entfremdungsgefühle konnten allerdings so stark werden, dass sich aus der Strategie ein Persönlichkeitsmerkmal entwickelte. Selbst hergestellte Gefühllosigkeit äußerte sich später in Gewalt und seelischer Grausamkeit. Eine andere Form der Reaktion auf die Zumutungen des Heimes bestand in Protesten, Verweigerungen, Provokationen und einem inneren wie äußeren Rückzug. Arbeitsverweigerungen oder unzureichende Arbeitsleistungen erzürnten in hohem Ausmaß, da Fleiß und Arbeitsfreude eines der Haupterziehungsziele darstellten, an deren Erreichung gemessen wurde, ob der Zögling sich zu einem brauchbaren Mitglied der Gesellschaft entwickelte.

An der Haltung zur Arbeit konnte auch sichtbar werden, dass Jugendliche bei entsprechendem Selbstbewusstsein imstande waren, Entscheidungen zu treffen. Angebote und Regeln des Heimes wurden – offen oder diskret – angenommen oder verweigert. Verweigerung, Provokation und Rückzug ermöglichten zumindest für eine kurze Zeit das Gefühl, nicht völlig ausgeliefert zu sein, den Stolz bewahrt oder sogar einen kleinen Sieg davongetragen zu haben. Bereits Kinder im Vorschulalter konnten ungeheure Gegenkräfte mobilisieren und sich dadurch ein Mindestmaß an Selbstschutz erobern. Auch wenn Aufbegehren viele Strafen nach sich zog, scheint dieser Verarbeitungsmechanismus mehr Möglichkeiten geboten zu haben, das Heim nicht völlig gebrochen verlassen zu müssen. Wer keine Gegenwehr oder kein anpassendes Ausweichen entwickeln konnte, war noch gefährdeter, Schaden zu erleiden.

Sich in der entindividualisierenden Heimatmosphäre, die auf die Auslöschung von Intimität und Privatheit ausgerichtet war, Orte des Rückzugs zu schaffen, stellte eine Zurückdrängung der Anforderungen des Heimes dar. Bei Julia Wegner in Scharnitz war dies wie bei Christine Specht in Mariahilf geradezu elementar überlebenswichtig. Beide standen als kleine Kinder vor besonderen Herausforderungen. Julia stellte sich in bestimmten Situationen tot. Darüber hinaus tauchte sie in eine mystische Welt ein, sowohl im Heim als auch in der Familie mit dem prügelnden Vater: „Und dann war mir in meiner großen kindlichen Not, als ob mir Jesus erschienen wäre. Es war so ein Lichtwesen, das mich getröstet und mir gesagt hat, du bist nicht schlecht, du bist nicht verrückt.“ Christine legte nicht nur eine wehrhafte Seite im Heim an den Tag. Das Kind versuchte, sich selbst zu schützen und das zu geben, was ihr die Erwachsenenwelt vorenthielt. Sie spaltete sich in zwei Personen und „beamte“ sich zeitweise weg. Die Christine, die so viel geschlagen und psychisch verwundet wurde, wurde von der anderen Christine, die in einer kinderfreundlich und glücklich imaginierten Welt lebte, getröstet und geschützt.

Auch Tagträume sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Walter Müller stellte sich in Kleinvolderberg vor, wie er sich Richtung Westen aufmachte, „dort wo bald die Sonne untergehen wird, dort, wo es warm ist, wo freundliche Menschen leben, wo man frei war und wo es keine Prügel mehr gab.“ Auch die Musik spielte eine große Rolle. Unter der Bettdecke schaltete er heimlich sein Radio ein und hörte Popmusik: „Das war meine Reise hinaus. (…) das war für mich die Welt, das Draussen, meine Freiheit. Yeah! Yeah! Yeah! von den Beatles.“

Eine überaus häufige Vorstellung, die viele der Befragten berichten, waren Rachephantasien samt drastisch ausgemalter Folter- und Tötungsarten, die den ErzieherInnen beschieden sein sollten. Für Georg stellte die Bibliothek der Bubenburg den ersehnten Ort der Ruhe vor den Erziehern und Schwestern dar. Es war die abwesende Welt des Geistes und Abenteuers, die er in den Büchern fand. Die Plätze des Rückzugs, die Mercedes Kaiser in Kramsach-Mariatal aufsuchte, waren der Wald und die Kapelle, der einzige Ort in den Ordensheimen, wo nicht geschlagen wurde. Kinder und Jugendliche, die sich von der Gruppe zurückzogen und mit sich alleine sein wollten, lehnten die ErzieherInnen ab. So wie im Fall von Hermine Reisinger drückte dieses Verhalten in den Augen der Heimleitung bereits einen bösen Willen ihr gegenüber aus. Es wurde als Zeichen der Auflehnung gegen das erzieherische Wirken gedeutet. Jeder Individualisierungsversuch wurde abgewertet, auch das äußere Erscheinungsbild sollte sich mit den Vorstellungen der Erziehungsmacht decken.

Richtige Revolten und offene Aufstände gab es in Tiroler Heimen nicht. Allerdings waren Jugendliche manchmal durchaus bereit, Konflikte auszutragen, die in einzelnen Fällen bis zu Tätlichkeiten reichen konnten. Die Situation im Heim schuf ein ständig brodelndes Aggressionspotential, das sich in Abständen entlud: meist gegen andere Heimkinder, dann auch gegen sich selbst und die ErzieherInnen.

Das größte Protestverhalten stellte die Flucht dar. Sowohl Kinder als auch Jugendliche beiden Geschlechts nahmen massenweise Reißaus. „Ich wollte doch auch einmal so leben, wie ich es mir vorstellte, nicht nur so, wie es die Erzieher erlaubten“, betont Ludwig Brantner. Die Heimleitungen unterstellten ihnen nicht nur zu Recht Auflehnung, sondern darüber hinaus auch krankhafte, pathologische Zwänge und Rückkehr zu ihrem Lebensstil der Herumtreiberei. Die Leitung der Tiroler Wohlfahrt machte noch 1980 die Triebhaftigkeit der Heimkinder für ihr Fluchtverhalten verantwortlich. Die Antwort der Heimleitungen war brutale Repression: Karzer, Schläge, Stigmatisierung durch Kahlscheren der Köpfe, Verbote und Entzug von Vergünstigungen.

Bei den Mädchen in St. Martin in Schwaz kam es auch zu zahlreichen Selbstverletzungen, die Verzweiflung ausdrückten oder Auswirkungen der erfahrenen emotionalen Kälte und Misshandlungen im Heim und in der Pflege- und Herkunftsfamilie darstellten. Bisweilen kann in ihnen auch ein bewusstes Protestverhalten gesehen werden. Sie brachten den Heimmotor ins Stottern und erkämpften sich durch die notwendig gewordene Versorgung Aufmerksamkeit und fürsorgliche Pflege. Zudem entzogen sie sich der Alltagsroutine, der Zwangsarbeit und den Bestrafungen. Die Verzweiflung ging so weit, dass auch Selbstmordversuche unternommen wurden. Die Reaktion des Heimes offenbarte die völlige Gefühllosigkeit, die sich bis in die letzten Poren des Systems hineingefressen hatte. Selbst Geschwistern wurde in Schwaz der Kontakt nach einem solchen Vorfall verboten. Ein Bursche in Kleinvolderberg, der sich aufhängte, konnte von einem Kameraden im letzten Moment noch gerettet werden. Bald darauf wurde er als „unerziehbar“ entlassen.