Überstellungsgründe

Die Überstellung von Kindern und Jugendlichen in die öffentliche Erziehung wurde mit dem Begriff der Verwahrlosung legitimiert. Jugendämter und Gerichte ordneten Heimeinweisung an, um die geistige, seelische und sittliche Verwahrlosung Minderjähriger zu beseitigen oder als Präventivmaßnahme, wenn ihrer Ansicht nach „Verwahrlosung“ drohte. Das Verwahrlosungsparadigma war juristisch nicht genau definiert und blieb weitgehend der Interpretation der einweisenden und diagnostizierenden Instanzen überlassen. Das 1954 von der oberösterreichischen Landesregierung herausgegebene „Handbuch der Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege“ definierte Verwahrlosungserscheinungen folgendermaßen:

„Mangel in den objektiven Lebensverhältnissen, in subjektiven Verhaltens- und Handlungsweisen; Folgeerscheinung eigener schlechter Veranlagungen oder von Erbeinflüssen, schlechten Lebens- und Umweltsverhältnissen, schlechter Erziehung. Verleitung oder Zwang zum Bösen. Die Verwahrlosung äußert sich in mannigfachen Formen wie: Lügenhaftigkeit, Arbeitsscheu, Liederlichkeit, Naschhaftigkeit, Betteln, Diebstahl, Betrug, Gewalttätigkeit, sexuelle Triebhaftigkeit, Durchgehen und Herumstrolchen, Schulschwänzen, Unheilstiften (Brandlegungen); Gefühlskälte, Lust am Sekkieren, Tierquälen, an Streitigkeiten, Raufhändeln, Roheitsakten; Besuch schlechter Lokale und Gesellschaften, Glücksspiel, Frechheit, Trotz, Auflehnung gegen Eltern, Lehrer und Dienstgeber, Hemmungslosigkeit, Großtun, übertriebene Eitelkeit, Putzsucht, Sportrausch, Vergnügungs- und Genußsucht, Abenteurertum. (…) Eine Verhaltens- oder Handlungsweise, die bewußt gegen die Gesellschaft gerichtet, sogar gesellschaftsfeindlich ist.“

Was dies in der Praxis bedeutete, untersuchte Bert Breit bereits in den 1970er Jahren bei Mädchen im Landeserziehungsheim Schwaz. Er stellte fest:

„Sittliche Verwahrlosung heißt zum Beispiel bei Maria, dass sie, als sie neun Jahre alt war, vom Freund ihres Vaters gezwungen worden ist, ihm beim Onanieren behilflich zu sein. Regelmäßig. Als es aufkam, bestrafte man Maria mit Heimeinweisung. Bei Elisabeth nannte man sittliche Verwahrlosung, dass sie als Minderjährige ‚schon‘ bei ihrem Freund wohnte, weil sie zu wenig verdiente, um sich ein Zimmer leisten zu können. Zur Strafe wurde sie ins Heim eingewiesen. Und Hannelore beschuldigte man, sittlich verwahrlost zu sein, weil sie zweimal von Lehrplätzen davongelaufen war; bei der ersten Lehrstelle gab es nur schlechte Ausbildung, bei der zweiten wollte ihr der Chef dauernd unter die Bluse greifen. Heimeinweisung. Und Elfriede ist von Zuhältern in einen Keller gesperrt worden und mit vorgehaltener Pistole gezwungen worden, Gastarbeiter zu befriedigen. Strafe für Elfi: Heimeinweisung.“

Erbbiologisch definierte Verwahrlosung

Seit Ende des 19. Jahrhunderts entwarf die Psychiatrie Krankheitsbilder, die auf Fürsorgezöglinge angewandt wurden. Ursprünglich sollte eine punktgenaue Diagnostik zur Verwissenschaftlichung der Entscheidungen für eine Fremdunterbringung und des bereitzustellenden Angebotes für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche beitragen. Die Psychiatrie, die sich als Leitwissenschaft für das Vormundschaftswesen entwickelte, berücksichtigte nicht die soziale Welt der Kinder, sondern diagnostizierte deren Veranlagungen, die für Charakter und Verhalten maßgeblich wären. Neue Begrifflichkeiten wie psychopathische und moralische Minderwertigkeit ermöglichten eine beliebige Kategorisierung der Kinder. Sozial abweichendem Verhalten wurden biologistische und rassistische Erklärungsmuster zugrunde gelegt. Die Ausblendung der Verhältnisse, in denen die Minderjährigen lebten, ermöglichte es, Verhaltensauffälligkeiten als Defizite zu sehen, die in den Kindern selbst festgemacht wurden. Für die Armut und ihre Auswirkungen, für ihre Gewalterfahrungen, für die Vernachlässigung und ihre Folgen waren sie selbst verantwortlich. Dies hatte auch den Vorteil, dass das Scheitern der Fürsorgeerziehung nicht der Institution, sondern den Zöglingen selbst zur Last gelegt werden konnte. Sie galten dann als unerziehbar, asozial, pathologisch und erbbiologisch minderwertig. Handlungen und Verhaltensweisen, die mit dem sozialen Hintergrund der Kinder zu tun hatten, wurden in unveränderbare, biologisch determinierte Weseneigenschaften umgeschrieben.

Klassenspezifische Definition von Verwahrlosung

Zu einer Heimeinweisung kam es nicht nur wegen tatsächlicher Vernachlässigung oder wegen Gewalterfahrungen daheim. Um unnotwendig rasch in die Fremderziehung zu geraten, genügte es, wenn Kinder und Jugendliche in Teilbereichen kein gesellschaftskonformes Verhalten an den Tag legten. Jugendämter, Gerichte, Kinderpsychiatrien und Schulen ahndeten Verstöße gegen bürgerliche Arbeitsmoral, bürgerliches Besitzverständnis und bürgerliche Sexualnormen. Der Verwahrlosungsbegriff zeigt die Zeitgebundenheit moralisch aufgeladener Normen, mit denen machtvolle Instanzen in das Leben dieser Minderjährigen eingriffen.

Betroffen waren fast ausschließlich Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Klassen. Wir haben es mit einem Kampf gegen die Armen zu tun, statt dass ein Kampf gegen die Armut geführt worden wäre. Von Anfang an waren die Heime Teil des Umgangs der bürgerlichen Gesellschaft mit den negativen Auswirkungen der Industrialisierung. Soziale Fragen wurden mit Repression beantwortet, mit einem Prozess der Exklusion, mit dem Wegsperren der als Bedrohung wahrgenommenen Unterschichtkinder.

Fast alle Heimkinder lebten in großer, teils unbeschreiblicher Not, ihre Mütter waren meist früh schwanger, oft unverheiratet, alleinerziehend oder geschieden, die Wohnverhältnisse katastrophal. Viele Väter weigerten sich, Alimente zu zahlen. Mit ihnen führte das Jugendamt jahrelange Auseinandersetzungen. Der Zwang zur Berufstätigkeit stellte die Mütter vor die Notwendigkeit, das Kind zeitweise zu Verwandten oder zu fremden Leuten zu geben. Denn die Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder und SchülerInnen im katholisch-konservativen Österreich waren völlig unzureichend. Das gesellschaftliche Leitbild war die Kleinfamilie mit der daheim tätigen Mutter und dem Vater als Alleinverdiener. Der Sozialstaat bot in dieser Situation in den 1950er- und 1960er-Jahren geringe Unterstützung für Gebärende, arme Familien und berufstätige Alleinerzieherinnen. Die mangelhaften öffentlichen Betreuungsstrukturen begünstigten Erscheinungsformen in unterprivilegierten Familien, die von den Behörden als Verwahrlosung wahrgenommen wurden. Statt Unterstützung der betroffenen Familien, Kinder und Jugendlichen und der Inangriffnahme einer bedarfsgerechten Sozialpolitik erfolgte der Zugriff auf die Heranwachsenden und ihre Isolierung von der bürgerlichen Gesellschaft durch die Einweisung in eine Anstalt.

Geschlechterstereotyp definierte Verwahrlosung

Gründe für die Heimeinweisung von Jungen lagen vor allem in Eigentumsdelikten, so genannter Arbeitsscheue und im Herumstrolchen; bei den Mädchen war es in erster Linie der Tatbestand „sexueller Verwahrlosung“ und des Diebstahls. Eine groß angelegte Studie Anfang der 1950er Jahre ergab, dass unter den knapp 1.100 untersuchten österreichischen Heimkindern fast 40% der Burschen wegen Diebstahls, ein Drittel wegen Arbeitsscheue und Herumstrolchens und je 10% wegen Asozialität und dem Vorliegen eines Erziehungsnotstandes in ein Heim gebracht wurden. Bei lediglich 3,5% der Burschen lag Gewalttätigkeit vor. Bei fast zwei Drittel der Mädchen hatten Behörden und Gerichte „sexuelle Verwahrlosung“ angegeben, bei der Hälfte Diebstahl (meist in Verbindung mit „sexueller Verwahrlosung“ oder Verlogenheit), bei 16% Arbeitsscheue und bei über 10% einen Erziehungsnotstand.

Diese Jugendlichen waren materiell ausgegrenzt und konnten sich nichts leisten, deshalb stahlen sie. Besonders oft nahmen männliche Jugendliche Autos und Mopeds unerlaubt in Betrieb. Wollten sich Jugendliche nicht zu einem Beruf zwingen lassen, den sie ablehnten, flohen sie aus Ausbeutungsverhältnissen und vor sexuell übergriffigen Vorgesetzten, wechselten sie also häufig den Arbeitsplatz oder brachen die Lehre ab, so wurde dies als sichtbares Zeichen für Arbeitsscheue und Herumstrolchen interpretiert.

Als „sexuelle Verwahrlosung“ bei weiblichen Jugendlichen aus dem proletarischen Milieu galt bereits, wenn sie bestimmte Tanzlokale frequentierten, einen kurzen Rock trugen oder öfter in männlicher Begleitung gesehen wurden. Wirtschaftliche Not oder sexuelle Ausbeutung als Ursache wechselnden Geschlechtsverkehrs oder für Prostitution zu vermuten, lag den Autoritäten der Macht fern.

Uneheliche Kinder waren neben Scheidungskindern in besonders hohem Ausmaß in den Heimen untergebracht. Zum einen wegen der häufigen Notlage der alleinerziehenden Mütter, zum anderen wegen unterstellter Verderbtheit und moralischer Haltlosigkeit. Unehelichkeit war von vorneherein verdächtig. Mutter und Kind wurden gesellschaftlich abgewertet und vom automatisch zum Vormund bestellten Jugendamt vielfach kontrolliert. Das sexuell unerwünschte Verhalten der Mutter stigmatisierte das Kind.

Kinder und Jugendliche, die sexuell genötigt, missbraucht oder vergewaltigt wurden, sahen sich ebenfalls zu Objekten der Fürsorgeerziehung degradiert. Einerseits wurde von einer Mitschuld ausgegangen, andererseits erschienen sie nach solch traumatisierenden Erlebnissen als sexuell infektiös, das heißt als potentielle VerführerInnen braver, unschuldiger Kinder. Sexuell missbrauchte männliche Kinder und Jugendliche liefen bei Überführung des Täters aufgrund des Homosexuellenparagraphen Gefahr, vor Gericht eine Teilschuld zugesprochen zu bekommen, zumindest sollte die Rolle des Opfers erhoben werden. Dieser Umstand ist noch heute eine Quelle tiefer Beschämung, Trauer und Wut für Betroffene. Sie erlebten oft eine Schuldumkehr, die sich im Heim fortsetzte. Dort wurden Verhaltensauffälligkeiten, ausgelöst von der traumatischen Erfahrung, pathologisiert und sanktioniert.