Kontinuitäten des Nationalsozialismus

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Gesetzliche Grundlage und Fürsorgeapparat

Erst mit dem Bundesjugendwohlfahrtsgesetz von 1954 und dem Tiroler Landesgesetz von 1955 wurde die nationalsozialistische Jugendwohlfahrtsverordnung abgelöst, allerdings finden sich, unter Aufgabe der nationalsozialistischen Erziehungsziele, über weite Strecken Deckungsgleichheiten bei Formulierungen, Bestimmungen und Aufgaben. Arrest, körperliche Züchtigung und Arbeitszwang blieben Teil der öffentlichen Erziehung. Zwar verzichtete man auf den Unerziehbarkeitsparagraphen der NS-Verordnung, in der Praxis war es jedoch noch lange üblich, Jugendliche aus der öffentlichen Erziehung zu entlassen, wenn aus amtlicher Sicht kein Erziehungserfolg angenommen werden konnte. Dabei spielten nicht zuletzt auch finanzielle Überlegungen der Kostenersparnis eine wesentliche Rolle. Die öffentlichen Eingriffsmöglichkeiten in private Erziehungsaufgaben unter Ausschluss der Eltern von der Erziehung ihrer Kinder waren jedenfalls weiterhin überaus groß.

Für Bundesländer wie Tirol oder Vorarlberg kommt erschwerend hinzu, dass der Fürsorgeapparat nicht nur nationalsozialistisch durchdrungen, sondern überhaupt erst in der NS-Zeit aufgebaut worden war. Von einer staatlichen Kinder- und Jugendfürsorge in Tirol können wir erst seit 1940 sprechen, als neben dem ersten umfassenden Jugendwohlfahrtsgesetz Österreichs die entsprechende Behördenstruktur mit einem Landesjugendamt und den Bezirksjugendämtern geschaffen wurde und viele neue Fürsorgerinnen, meist ohne spezielles Qualifikationsniveau, ihre Tätigkeit aufnahmen. Die führenden Positionen wurden 1945 neu besetzt, und auch das nicht immer, ansonsten veränderte sich relativ wenig. In frei werdende Stellen rückten Personen nach, die in der NS-Zeit in Ungnade gefallen waren. Hierbei handelte es sich in der Regel um Menschen, die weiterhin überaus autoritäre und paternalistische Erziehungsvorstellungen mitbrachten und ausgesprochene Vorurteile gegenüber den Unterschichtfamilien, aus denen die Heimkinder kamen. Viele von ihnen waren bereits in der Zwischenkriegszeit und während des Austrofaschismus im Fürsorgewesen, teils in führenden Positionen, aktiv gewesen. Wegen des Mangels an qualifiziertem Personal war das NS-Regime bereit, kompetente „Schwarze“ zu übernehmen, sofern sie in den Augen des NS-Regimes nicht zu sehr belastet waren und sich anpassungswillig zeigten. Die Fürsorgeverwaltung und die Jugendämter waren in der NS-Zeit zutiefst in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Die Arbeit in diesen Bürokratien prägte Denken und Erfahrung des Fürsorgepersonals, das mehrheitlich nach 1945 weiterwirkte.

Wissenschaft

Das Verwahrlosungsparadigma, das vor und nach 1938 die Einweisungsgründe vorgab, war auch in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik für die Behörden und die FürsorgerInnen handlungsleitend. Noch 1952 demonstrierte die zentrale empirische Studie des Grazer Psychologie- und Pädagogikprofessors Otto Tumlirz „Die Jugendverwahrlosung“, wie sehr auch das akademische Denken von althergebrachten Vorstellungen und Vorurteilen geprägt war. Gleichzeitig ist auch das Weiterleben nationalsozialistischer Erziehungsideen und eines erbbiologisch motivierten Rassismus erkennbar. Sie mussten nur sprachlich und argumentativ überarbeitet und im demokratischen Sinn erweitert werden, nicht aber im Kern der Anschauungen. In der NS-Zeit war Tumlirz prominenter Vertreter der Rassenpsychologie und „völkischen Anthropologie“, in der das Konzept der „Rassenseele“ entworfen wurde. In seinem 1939 erschienenen Hauptwerk „Anthropologische Psychologie“ verwies Tumlirz darauf, dass die Psychologie mehr als andere Wissenschaften weltanschaulich, rassisch und völkisch gebunden sei, wobei die Anordnung der Seele eines Volkes und die Unterscheidung zwischen pathogenen und produktiven Seelenmischungen entscheidend wären. Nach dem Krieg legte er seine Werke nur unwesentlich verändert neu auf. Noch bevor er 1952 an der Universität wieder lehren durfte, war er als gerichtlicher Sachverständiger und ab 1948 als psychologischer Gutachter des Steirischen Landesjugendamtes tätig. Nicht zufällig trat er auf der ersten „Tagung der Heimleiter und Erzieher österreichischer Fürsorgeerziehungsheime“ 1951 in Hartberg, an der auch die LeiterInnen der Landeserziehungsheime Kleinvolderberg und Kramsach-Mariatal teilnahmen, als wissenschaftlicher Referent zum Thema „Erfolg und Mißerfolg der Fürsorgeerziehung“ auf. Dabei stützte er sich auf sein Studium von 880 Fällen der Jugendverwahrlosung und interpretierte 200 Minderjährige, die er selbst begutachtet hatte. Tumlirz sah zwar im Sinne der neuen Zeit heilpädagogische Interventionen für sinnvoll an, doch selbst die ungünstigste Umwelt wirke nur aufgrund bestimmter Anlagen des Kindes verwahrlosend. Entscheidend waren für ihn

„schlechte Erbanlagen, vor allem geistiger und moralischer Schwachsinn, geistige Abartungen, Psychopathien und Geistesstörungen. (…) Da nun die Zahl der Abgearteten einschließlich der geistig Schwachsinnigen bei den Geprüften 62,5% ausmacht, so können wir annehmen, daß für das Gesamtmaterial etwa 60% irgendwie abgeartet und nur 40% normal sind, woraus sich ergibt, daß in einer größeren Anzahl der Fälle schlechte Erbanlagen einen wesentlichen Anteil an der Verwahrlosung haben.“

Ein konsequenter Neuanfang in der Heimerziehung ist in der Zweiten Republik jedenfalls weder in der Praxis noch in der Theorie auszumachen. Wissenschafter wie Tumlirz waren ab Anfang der 1950er Jahre weiterhin aktiv und beeinflussten die fachlichen Diskussionen. Dies gilt besonders für die Psychiatrie und Kinderpsychiatrie.

Erziehungspraxis/Pädagogik

Die geradezu sadistische Erziehungspraxis in vielen Heimen erklärt sich nicht zuletzt auch durch die Nachwirkung nationalsozialistischer Erziehungsvorstellungen und nichtverarbeiteter Erfahrungen während des Krieges. In den von der Umwelt hermetisch abgeriegelten Heimen war es für Heimleitungen und ErzieherInnen möglich, die eigenen Traumatisierungen und „braunen“ Überzeugungen auszuagieren. Die gepflogenen Umgangsformen ähnelten den Ritualen und Tagesabläufen in der Wehrmacht und im Reichsarbeitsdienst. Speziell die Erfahrungen in der Hitlerjugend scheinen im Heimalltag und in den Köpfen der ErzieherInnen stark gegenwärtig gewesen zu sein. Zucht, Ordnung, Gehorsam und Unterwerfung waren traditionelle bürgerliche Tugenden, an die der Nationalsozialismus anknüpfte und die er für seine Massenverbrechen dienstbar machte. Auch nach 1945 waren diese Erziehungsziele die Leitlinien der Heimpädagogik und der Nachkriegsgesellschaft generell. Ihre Überhöhung zu Primärtugenden war ebenso wenig in Frage gestellt wie die Erziehung zum „autoritären Charakter“. Die Verbindungen zum Nationalsozialismus konnten oder wollten nicht gesehen werden. Das Recht des Stärkeren, das Lob des Gehorsams und der Rückgriff auf Erbtheorien waren allgegenwärtige Denkfiguren in der Fürsorge, im Gesundheitswesen, speziell in der Psychiatrie, am Gericht und im Schulbereich. Jedenfalls standen in den Heimen zumeist nur diejenigen ErzieherInnen zur Verfügung, die bereits vor und während der NS-Zeit tätig gewesen waren. Ihnen allen gemeinsam war das Fehlen jeglicher pädagogischer Ausbildung. Durch die personelle Kontinuität war nicht zu verhindern, dass autoritäre und wenig kinderfreundliche Erziehungs- und Gesellschaftsbilder bei den ErzieherInnen vorherrschten und sich auf die Erziehungspraxis negativ auswirkten.