Der stigmatisierende Blick auf die Kinder

zurück zu „Wie war es möglich“

Wir haben gesehen, dass für die Legitimation der Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen auch in der Zweiten Republik Jahrzehnte lang der Begriff der Verwahrlosung die zentrale Kategorie darstellte und dass dabei erbbiologisch-rassistische Begründungen eine wichtige Rolle spielten. Diese stigmatisierende und degradierende Sichtweise beeinflusste den Umgang der ErzieherInnen in den Heimen und hatte einen bedeutenden Anteil an der strukturellen Gewalt in der Praxis der Heimerziehung.

Die Ausblendung der sozialen Verhältnisse, in denen die Kinder und Jugendlichen vor ihrer Heimeinweisung lebten, ermöglichte es, Bedürftigkeit, Vernachlässigung und Verhaltensauffälligkeiten als Defizite zu sehen, die in den Kindern selbst festgemacht wurden. Für die Armut und ihre Auswirkungen, für ihre Gewalterfahrungen, für die Vernachlässigung und ihre Folgen waren sie selbst verantwortlich. Sie galten als asozial, pathologisch, erbbiologisch minderwertig und nicht erziehbar und kamen bereits derart gebrandmarkt in die Heime. Durch diese Brille von Stereotypien, defizitorientiert und feindselig, betrachtete schließlich auch die Mehrheit des Heimpersonals die HeiminsassInnen. Bereits bei seiner Ankunft im Heim haftete dem Kind ein Etikett an: Die ErzieherInnen übernahmen ein schlechtes, minderwertiges, gefährliches, nichtsnutziges, abartiges und kriminelles Wesen – so stand es in den Akten, die den Zögling schufen. Diese Sichtweise produzierte ein behördliches Verfahren, in dem die maßgeblichen Autoritäts- und Machtapparate zusammenwirkten, mit dem Ergebnis der Heimeinweisung des gefährlichen Subjekts, dessen Ausschluss aus der Gesellschaft sie legitimierten. Die Fürsorgeheime hatten als Kontrollinstanzen das Wohlergehen der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Sie fungierten zu deren Schutz vor den missratenen und verwahrlosten Kindern und Jugendlichen. Die Anwendung einer Pädagogik der Härte und Demütigung gegen Unterschichtkinder war unter solchen Vorzeichen naheliegend, gesellschaftlich gewollt war sie allemal. Dies war der Referenzrahmen der ErzieherInnen, der ihre Einstellung und Handlungsweise bestimmte.

Als „totale Institutionen“ waren die Heime von der Umwelt hermetisch abgeriegelt, sie lagen meist auch geografisch an der Peripherie, abgelegen, von dicken Mauern umgeben. In ihnen lebten die Kinder und Jugendlichen isoliert und ghettoisiert. Und damit stieg auch die unkontrollierte Allmacht des Heimpersonals. Außenstehende galten als Unbefugte, Eltern als Störfaktor, Besuche wurden deshalb unter Beisein von Erziehungspersonal überwacht, Briefe nach außen zensuriert, eine unabhängige Beschwerdestelle gab es nicht. Den Opfern wurde kein Glaube geschenkt; an wen hätten sie sich auch wenden können? Die Erfahrungen dieser Kinder und Jugendlichen hatte keine Bedeutung in der Welt.