Langzeitfolgen

„Und ich glaube, wenn du 100 Jahre alt wirst, das bringst du nie mehr weg, das bringst du bei keinem mehr raus“, stellt Mercedes Kaiser fest. Dass sich psychische Auswirkungen als Folge von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch einstellen, ist seit langem bekannt, ebenso dass manche Menschen davon relativ unberührt bleiben. Therapien können helfen, diese psychischen Probleme einzugrenzen, sie in die Persönlichkeit besser zu integrieren und das Leben erfüllter zu machen. Völlig verblassen solche Erfahrungen nie. Angstzustände, Depressionen, mangelndes Selbstwertgefühl, Bindungsprobleme, Furcht vor Verlust, aber auch Drogenprobleme und Alkoholsucht stellen die häufigsten Folgen der erfahrenen Heimerziehung dar. Relativ neu ist jedoch, dass physische, seelische und sexuelle Misshandlungen ihre dauerhaften Spuren auch im Körper hinterlassen können. Aus den „primären“ Schmerzen, die während des Heimaufenthaltes und im Familienumfeld ertragen werden mussten und sich tief in das „Schmerzgedächtnis“ einbrannten, entwickeln sich „sekundäre“ Schmerzen in der ehemals verletzten Körperregion, oft noch Jahre später. Der Seelenschmerz werde zum Körperschmerz.

Allgemein wird von den ehemaligen Heimkindern über fehlende Versicherungsjahre für die Pension aufgrund der unterlassenen Anmeldung im Heim geklagt. Festzuhalten ist, dass die Mehrzahl der Befragten bis heute finanziell schlecht gestellt ist, weil sie entweder wegen mangelnder Ausbildung geringe Verdienstmöglichkeiten hatte oder wegen ihrer frühen Traumatisierungen nicht (mehr) erwerbsfähig ist. Christine Specht hebt auch ihre Verlustängste und ihr tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen und Gefühle totaler Verlassenheit trotz der Präsenz sie liebender Menschen hervor. Sie könne sich nicht fallenlassen. Mercedes Kaiser sagt über sich: „Im Herzen drein bin ich kaputt. Was habe ich heute, heute bist alleine, von der Seele her, heute bist alleine. Verkrüppelt alles und du alleine.“ Karlheinz L. konstatiert: „Der Hauptschmerz in meinem Leben ist der Verlust von Vertrauen, das bis heute nicht da ist.“ Hermine Reisinger spricht von ihrem Gefühlspanzer, der schwer zu durchdringen sei und ihrem enormen Misstrauen: „Ich war ja wie ein Wolf.“

Alkohol und Drogen waren bei einer ganzen Reihe von Befragten eine Zeit lang im Spiel. Sie erwähnen Namen über Namen ehemaliger Heimkinder, die sich „zu Tode gesoffen“ haben oder immer noch an einer Alkoholsucht leiden. Überhaupt sind die ehemaligen Heimkinder imstande, zahlreiche HeimbewohnerInnen zu nennen, die früh verstorben sind, sei es wegen Süchten, sei es aufgrund psychischer und somatischer Krankheiten.

Woran eine erkleckliche Anzahl ehemaliger Heimkinder besonders leidet, sind Schwierigkeiten, Zärtlichkeit und Nähe zu geben und auszuhalten. Dass ihre Kinder und PartnerInnen davon betroffen waren, ist ihnen eine besondere Quelle des Schmerzes. Aloisia Wachter erzählt, wie schwer sie sich damit getan hat, Berührungen zuzulassen. Immer noch fühle sie sich wie ein Kind in einem erwachsenen Frauenkörper. Walter Müller berichtet: „Bei mir war und ist es immer noch die Zärtlichkeit, das Kuscheln, Zuneigung, die Liebe, das ist ein Leben lang mein Problem gewesen. Die Angst vor Nähe, das ist es bei mir. Von selbst küssen und umarmen, das habe ich nicht als Bedürfnis. Das ist eigentlich eine Tatsache. Aber das ist nicht gut. Man kann Zärtlichkeit nicht lernen.“

Ein Muster bei vielen, besonders bei den weiblichen Heimkindern, ist die frühe Heirat und Schwangerschaft. Bei einigen kamen auch die eigenen Kinder unter die Amtsvormundschaft des Jugendamtes oder in eine öffentliche Betreuungsform. Mehrere Befragte erwähnen ausdrücklich, dass es ihnen gelungen ist, ihre Kinder nicht zu schlagen, bei einigen hielt sich die Gewalt im Rahmen, andere unterstreichen: „Es wäre ja noch gegangen, wenn nach der Entlassung aus Kleinvolderberg alles vorbei gewesen wäre. Aber so war es ja in vielem nicht. Ich habe so wie andere meine Kinder geschlagen, erst beim dritten konnte ich endlich damit aufhören. Bei fast allen, die wir hier sitzen, sind die Beziehungen zerbrochen.“

Fragen rund um die transgenerationelle Weitergabe des familiären Erbes und der Auswirkungen der Heimerziehung stellen einen noch völlig offenen und ungeheuer wichtigen Themenbereich dar. In der Tat sind einige der Nachkommen ehemaliger Heimkinder mehr oder weniger auch als Opfer der Langzeitauswirkungen der Heimerziehung ihrer Eltern zu begreifen. Dazu kommt, dass sich in einigen Familien der Heimkinder die soziale Not und die mit ihr einhergehenden negativen Begleiterscheinungen von Generation zu Generation weitervererbt haben. Unter den Befragten ist dies zwar nur teilweise und in krasser Form lediglich in Einzelfällen festzustellen. Hier gilt es allerdings zu bedenken, dass sich jene ehemaligen Heimkinder, deren Leben völlig ruiniert wurde, die am Rande der Gesellschaft dahinvegetieren müssen, sich nicht mehr artikulieren können und psychisch wie physisch am Ende sind, gar nicht melden konnten oder wollten. Von den vielen bereits Verstorbenen ganz zu schweigen.

Frühe Bindungen und der extreme Mangel an Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht führten oftmals zu disharmonischen Partnerschaften, die wegen Unselbstständigkeit, fehlendem Selbstbewusstsein oder finanzieller Abhängigkeit nicht oder erst sehr spät aufgekündigt wurden. PartnerInnen ehemaliger Heimkinder standen und stehen oftmals vor großen Herausforderungen, wenn diese sich im Zuge ihres Heimerbes in Phasen emotionaler und psychischer Instabilität befinden.