Einweisung

Für die Einweisung in ein Heim war rechtlich kein besonderer Anlass notwendig. Es genügte die materielle Not der Familie, die Überforderung der meist sehr jungen Mütter und Eltern, Krankheiten oder (zeitweise) Abwesenheit der Eltern, Unehelichkeit der Kinder, eine Scheidung und das Fehlen von Kinderkrippen, Kindergärten, Horte und Ganztagsschulen. Für die meisten Befragten gilt: Sie lebten zur Zeit ihrer Kindheit in großer, teils unbeschreiblicher Armut, ihre Mütter waren unverheiratet oder geschieden, die Wohnverhältnisse katastrophal. Der Zwang, nach den damals noch kurzen Mutterschutzfristen wieder arbeiten gehen zu müssen, brachte es vielfach mit sich, dass sich die meist alleinerziehenden Mütter nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern konnten, sie auf fremden Pflegeplätzen oder bei Verwandten unterbringen mussten. Dies zog häufige Wechsel der Bezugspersonen nach sich und wirkte sich negativ auf die Psyche und das Verhalten der Kinder aus. Die Fürsorgerinnen, Ämter, Behörden, Ärzte- und Richterschaft waren in der Regel unfähig und nicht willens, diese Zusammenhänge zu begreifen. Da Unterstützungen ausblieben, wurde zumeist eine Heimunterbringung angeordnet. Unter den Befragten befinden sich besonders viele unehelich Geborene und Scheidungskinder.

Franz Pichler wuchs in einer übel beleumundeten Gegend von Innsbruck „wild“ auf. Er genoss die Freiheit: Es war eine „tolle jenische Kindheit“, „bis ich ins Heim kam.“ Als „Karner“ war Franz von vorneherein abgestempelt. Kinder von Jenischen wurden mehrheitlich Heimen zugeführt. Franz liebte seinen Vater über alles, er fühlte sich trotz vieler Probleme daheim wohl, nötig war lediglich eine Hilfestellung durch das Jugendamt. Doch diese blieb aus, stattdessen erfolgte eine Überstellung ins Heim. Der Einweisungsgrund von Franz Pichler zeigt auf, wegen welcher Nichtigkeiten Kinder in einer Gesellschaft, in der die Aufgabe der Mütter darin gesehen wird, daheim rund um die Uhr für die Kinder da zu sein, ihren Familien entrissen wurden. Franz läuft nach der Scheidung der Eltern ständig von der Mutter, zu der er kein gutes Verhältnis hat, zum Vater. Der Achtjährige hat schulische Schwierigkeiten. Die Knaben-Volksschule Pradl Ost beschwert sich über ihn. Er mache „schon rein äusserlich einen verwahrlosten Eindruck“, komme sehr häufig zu spät und seine Schulsachen wären nie in Ordnung. Seine Aufgaben würde er „grundsätzlich“ nicht mitbringen und öfter gehe er nicht in die Schule. „Es fehlt ihm der Leistungswille. Bei Bestrafung wird er boshaft. (…) Auf dem Schulweg gibt es dauernd Schwierigkeiten, sein Verhalten in und ausserhalb der Schule untergräbt die Moral der Masse.“ Da die Mutter nicht fähig sei, „einen guten Einfluss auszuüben“, wird gerichtliche Erziehungshilfe angeordnet, um ihn „in einem geeigneten Heim“ unterzubringen. In Westendorf wird der neunjährige Franz dann geprügelt und von einem Erzieher sexuell missbraucht.

Die Mehrheit der Befragten befand sich in ihren Familien nicht nur in einer sozial höchst prekären Notlage, sondern erlebte daheim auch eine reale Vernachlässigung in Verbindung mit exzessiven Schlägen. Vielfach sahen die Mütter keinen Ausweg, den prügelnden Ehemann oder Lebensgefährten zu verlassen, sei es aus Angst, sei es, weil sie nichts anderes kannten, aber auch weil alleinstehende Frauen in den 1950er und 1960er Jahren als Mangelexistenzen angesehen wurden. Zerrüttete Familienverhältnisse und die vielfach zu übermäßigem Alkoholgenuss und Gewalttätigkeit neigenden Männer müssen auch in einem Zusammenhang mit dem zu Ende gegangenen Krieg und dessen Auswirkungen gesehen werden. Nicht nur die Arbeitslosigkeit war in der Nachkriegsgesellschaft lange Zeit hoch. Die Erzählungen der ehemaligen Heimkinder sind repräsentativ für die Situation vieler von Krieg und Kriegsgefangenschaft gezeichneten Männer, die verroht und brutalisiert heimkamen und ihren Platz in der Familie und Gesellschaft nicht mehr oder nur schwer fanden. Oft hatten diese schlagenden Väter in ihrer Kindheit am eigenen Leib unbeschreibliche Gewalterfahrungen in kinderreichen Familien erlebt.

Ins Auge sticht, dass es die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder waren, welche die Schule und das Jugendamt alarmierten. Den Kindern wurde kein Verständnis entgegengebracht, sondern ihnen ein schuldhaftes Benehmen angelastet. Die Gewalt und die Vernachlässigung, welche die Kinder erleben mussten, spielten als Einweisungsgrund weniger eine Rolle. Die väterliche Gewalt wurde nicht in Frage gestellt. Unter den Befragten gab niemand an, das Jugendamt oder die Fürsorgerin als Hilfe gesehen zu haben. Das Heim selbst bot keinen Schutzraum, sondern wurde noch schlimmer erlebt als die furchtbaren Bedingungen daheim. Die Vorwürfe, dass sich das Amt und seine Organe nicht für die Prügel der Kinder interessierten, selbst wenn die Spuren unübersehbar waren, sind unzählig. Die ehemaligen Heimkinder berichten im Gegenteil, dass ihnen nicht geglaubt wurde, dass sie sogar noch Standpauken von der Fürsorgerin erhalten haben mit der Anweisung, braver zu sein und zu folgen. Allzu oft sagte man ihnen, dass sie die „Ohrfeige“ schon verdient haben würden. Ähnliche Erfahrungen mussten sie oftmals auch in der Schule machen. Wenige LehrerInnen sahen in Verhaltensauffälligkeiten die Nöte der Kinder, sondern ihre Bösartigkeit, Faulheit, Dummheit, Scheinheiligkeit, Lügenhaftigkeit, Frechheit usw. Das waren dann die Verwahrlosungsgründe, die zur Heimunterbringung führten. Zu betonen ist aber, dass es einige LehrerInnen gab, die versuchten, sich um die Kinder zu kümmern, für sie zu intervenieren und ihnen gute Charaktereigenschaften zu attestieren.

Ihre Berichte erscheinen ausgesprochen oberflächlich, ja stereotyp standardisiert. Auch hier gilt, dass im Falle von Misshandlungen den Kindern sehr oft kein Glaube geschenkt wurde. Dies hatte besonders bei sexuellem Missbrauch äußerst negative Folgen für die Kinder. Und: Das Opfer landete im Heim, die Täter blieben meist unbehelligt, therapeutische Hilfe für das Kind gab es keine. Zu Recht fühlten sich die Betroffenen wie Hermine Reisinger als „Seuchenkind“, das in einem Heim in Quarantäne gehalten werden musste. Sie war von Kindheit an sexuellen Übergriffen bis zur Vergewaltigung durch ihren Pflegevater ausgesetzt und kam daraufhin ins Heim. Die Gendarmerie unterstellte ihr „Duldung“ des Beischlafes im Alter von 12 und 13 Jahren. Auf das Gericht machte sie einen „verschlagenen, unaufrichtigen Eindruck“. Als sich Hermine im Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz anlehnungsbedürftig zeigte, verunglimpfte die Direktorin dies als „abstossend“ und als Zeichen dafür, dass sie der „Liderlichkeit zugeneigt“ wäre. Daraufhin lehnte sie sich gegen alle und alles auf: „Das war ein Ventil für mich, das habe ich gebraucht, um nicht überzuschnappen. Ich musste das machen, sonst wäre ich ja in der Klapse gelandet. Die Pflegemutter, die Fürsorgerin, der Richter, das Heim, niemand glaubt dir etwas, da musst du durchdrehen.“

Auch dort, wo der Einweisungsgrund bei den befragten Männern als Jugendliche Arbeitsverweigerung oder Gesetzesbrüche darstellten, gab es immer eine Verbindung zur materiellen Not der Familie und den eingeschränkten Lebensmöglichkeiten. In den Akten der Befragten finden sich als Argumentation für die Fremdunterbringung Arbeitsverweigerung oder auch der Abbruch einer Lehre. Selbst wenn die Fürsorge „eine grosse Notlage in der Familie“ sah und feststellte, „eine Geborgenheit und ordentliche Erziehung im Elternhaus hat der Minderjährige nie erlebt“, sprach dies dennoch nicht für ihn, im Gegenteil. Denn genau das war es ja, was ihn in den Augen des Jugendamtes zu einem Verwahrlosten machte.

Eine Reihe ehemaliger Heimkinder durchlief eine „klassische“ Heimkarriere durch den Wechsel von einer Anstalt zur anderen. Am Anfang konnte wie bei Aloisia Wachter ein Säuglings- und Kinderheim stehen. Die unzureichende Zuwendung und Förderung in diesen Anstalten führte oft dazu, dass Kinder aggressiv und verhaltensauffällig wurden. Die kindlichen Bedürfnisse wurden vor dem Hintergrund schlechter quantitativer Betreuungsverhältnissevom Personal als zeitraubend und nervenzehrend erlebt. Die Kinder stellten einen Störfaktor im durchgeplanten Heimablauf dar. Die Folge des Mangels an positiven Erfahrungen mit einer Bezugsperson führte zu Hospitalisierungserscheinungen (Kontaktmangel, Misstrauen, vermindertes Selbstbewusstsein, Abwehrreaktionen, Zerstörungsdrang). Kinder liefen unter diesen Verhältnissen Gefahr, in Psychiatrien und Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche eingeliefert zu werden. Aus beziehungsbedürftigen Kindern wurden so PatientInnen, medizinische Behandlung ersetzte pädagogische Maßnahmen.

Aloisia Wachter verbrachte die ersten Monate bei ihrer Mutter. Nach dem eineinhalbjährigen Aufenthalt im Landessäuglings- und Kinderheim Arzl zeigte sie dann laut Jugendamt eine ausgesprochene „Nervosität“, sie „wurde auch medikamentös behandelt“, heißt es lapidar. Ihr ständiges Weinen galt als abnormale Veranlagung, nicht aber als Ergebnis mangelnder Zuwendung. Im Säuglings- und Kinderheim Arzl wurde auch nachweislich geschlagen. Aloisia wechselte in rascher Abfolge die Pflegepersonen. Bei ihrer kurzen Aufnahme im Kinderheim Scharnitz empfahl das Jugendamt die Verabreichung von Beruhigungsmitteln im Falle des Auftretens von Schreikrämpfen. Obwohl ihr schließlich von ärztlicher Seite attestiert wurde, dass sie, sobald sie länger andauernde Zuwendung von einer Bezugsperson erhielt, erstaunliche Fortschritte machte und wenigstens mittelmäßig begabt sei, wurde sie ins Kinderheim Martinsbühel abgeschoben. Zum einen, weil es dort eine Sonderschule gab und die Ärzte eine Normalschulreife verneinten, zum anderen, weil ein privater Pflegeplatz als ungeeignet erschien. Generell hieß es bei der kleinen Aloisia: „Es wird sich kaum eine Pflegemutter für dieses mühsame Kind finden.“ Wer und was das Kind „mühsam“ gemacht hatte, wurde vom Jugendamt nicht in die Überlegungen miteinbezogen.